In den ersten Lebensjahren lernen Kinder Sprachen noch anders und leichter, als später in der Schule. Das hängt mit Hirnreifungsprozessen zusammen. Daher haben zweisprachig (bilingual) aufwachsende Kinder die einmalige Chance, beide Sprachen wie zwei Muttersprachen zu erwerben. Mit Bilingualität ist gemeint, dass diese Kinder seit ihrer Geburt parallel zwei Sprachen lernen.
Die Fähigkeiten in beiden Sprachen sind jedoch abhängig davon, wie häufig und wie lange Ihr Kind die jeweilige Sprache im Alltag hört. Ist zum Beispiel der Vater nur am Wochenende da, wird Ihr Kind voraussichtlich die Sprache der Mutter, die mehr Zeit mit dem Kind verbringen kann, besser beherrschen. Meistens ist daher eine der beiden Sprachen die Stärkere, was kein Grund zur Beunruhigung ist. Das kann dazu führen, dass Ihr Kind gelegentlich Wörter aus der anderen Sprache entlehnt, um Wortschatzdefizite zu schließen. Dies ist ganz normal und kein Zeichen für eine Sprachentwicklungsstörung.
Der Sprechbeginn bei Zweisprachigkeit kann leicht verzögert sein (nicht mehr als ein halbes Jahr), die Verzögerung wird aber meist schnell aufgeholt. Lediglich im Wortschatz zeigen sich dann noch Unterschiede zu einsprachig aufwachsenden Kindern. Das liegt daran, dass bilinguale Kinder nicht in allen Lebenssituationen beide Sprachen sprechen
Bilinguale Kinder erwerben Sprache nach den gleichen Prinzipien wie einsprachig aufwachsende Kinder. Auch diese Kinder können von einer Sprachentwicklungsstörung betroffen sein. Dies ist der Fall, wenn die zu erwartenden Entwicklungsschritte mehr als ein halbes Jahr verzögert sind. Eine Sprachentwicklungsstörung betrifft immer beide Sprachen. Ist dagegen eine Sprache altersgemäß entwickelt und die andere nicht, liegt dies meist daran, dass das Kind mit der zweiten Sprache zu wenig in Kontakt gekommen ist. Dieses Kind braucht mehr Zugang zur zweiten Sprache aber keine logopädische Therapie.
Sollten Sie unsicher und besorgt sein bezüglich der sprachlichen Entwicklung Ihres Kindes, dann sprechen Sie Ihren Kinderarzt darauf an. Dieser kann dann, falls dies notwendig erscheint, eine logopädische Therapie zur genaueren Diagnostik und Beratung verordnen.
Nach einer ausführlichen Anamnese, wird der Sprachentwicklungsstand Ihres Kindes – soweit dies möglich ist – in den verschiedenen Sprachen erhoben. Ist eine der Sprachen Deutsch, kann diese über die entsprechenden Diagnostikmaterialien untersucht werden. Zur Einschätzung der Sprachentwicklung in der zweiten Erstsprache werden die Eltern befragt. Bei jüngeren Kindern können Elternfragebögen zum Einsatz kommen, die in verschiedenen Sprachen zur Verfügung stehen.
Die Inhalte der logopädischen Therapie ergeben sich aus den Ergebnissen der Diagnostik und unterscheiden sich methodisch nicht von der Therapie mit einsprachig aufwachsenden Kindern.
Optimal ist es, wenn die logopädische Therapie, in einer der beiden Muttersprachen erfolgen kann. Als Eltern sollten Sie sich vorher informieren, wer eine entsprechende Therapie in einer der Erstsprachen anbieten kann, falls keine davon Deutsch ist. Ich selbst kann leider nur Therapie in Deutsch anbieten, da ich andere Sprachen nicht ausreichend beherrsche. Eine Suchmöglichkeit nach Therapeuten mit Angabe der Therapiesprache bietet der Deutsche Bundesverband für Logopädie auf seiner Internetseite (www.dbl-ev.de) an. Ist es nicht möglich, in einer der Muttersprachen zu therapieren, und ist Ihr Kind bereits mit der deutschen Sprache z.B. über den Kindergarten in Berührung gekommen, ist auch eine Therapie in Deutsch denkbar. Die Therapie in einer Sprache wirkt sich erfahrungsgemäß auch auf die andere(n) Sprache(n) positiv aus. Die Therapieschwerpunkte richten sich nach dem Entwicklungsstand Ihres Kindes. In der Elternberatung nimmt der Umgang mit der Zweisprachigkeit in der Familie einen wichtigen Raum ein.
Die Entscheidung zur zweisprachigen Erziehung sollte spätestens mit der Geburt fallen. Falls Sie selbst mehrsprachig aufgewachsen sind, wählen Sie für Ihr Kind die Sprache, in der Sie sich selbst beheimatet fühlen und die Sie sehr gut beherrschen. Damit ist gewährleistet, dass Ihr Kind eine korrekte Grammatik und einen differenzierten Wortschatz erwerben kann. Haben Sie sich für eine Sprache entschieden, sollten Sie so konsequent wie möglich die Regel „eine Sprache, eine Person“ anwenden. Das bedeutet, dass Sie mit Ihrem Kind immer nur in der einmal gewählten Sprache sprechen. Wenn jede Person Ihrer Familie diese Regel beherzigt, kann Ihr Kind sehr gut parallel mehrere Sprachen lernen, ohne dass dies zu Sprachvermischungen führt.
Häufig entwickeln Kinder mit den Jahren eine bevorzugte starke Sprache. Oft ist dies die Umgebungssprache, die meist über den Kindergarten gestärkt wird. Dann kann es vorkommen, dass Ihr Kind mehr und mehr in der Umgebungssprache spricht. Sie sollten dennoch weiter in Ihrer Sprache antworten. Damit erreichen Sie, dass Ihr Kind diese Sprache gut verstehen lernt und bei entsprechender Gelegenheit, vielleicht in einem Urlaub, auch anwenden kann.
Auch, wenn Ihr Kind eine Sprachentwicklungsstörung zeigen sollte, können Sie weiterhin bei einer zweisprachigen Erziehung bleiben. Eine konsequente zweisprachige Erziehung ist niemals die Ursache für Störungen in der Sprachentwicklung. Im Einzelfall kann man jedoch über Möglichkeiten nachdenken, um Ihr Kind zu entlasten.
Eine zwei- oder sogar mehrsprachige Erziehung kann viele Fragen aufwerfen, die nicht alle hier behandelt werden können. Zu dieser Thematik gibt es inzwischen viele gute Ratgeber. Ich empfehle Ihnen das Buch „Mit zwei Sprachen groß werden“ von Elke Montanari im Köselverlag. Ein sehr praxisnahes Buch, das wissenschaftliche Erkenntnisse mit den komplexen mehrsprachigen Alltagserfahrungen verbindet.